Halabja: für viele ein lebenslanges Schicksal

Zwei Jugendliche sitzen zwischen Grabsteinen und knabbern Sonnenblumenkerne. Einer von ihnen lächelt mir zu, der andere dreht sich weg. Halabja’s symbolischer Friedhof ist ein stiller Ort. Hier wird den rund 5.000 Menschen gedacht, die 1988 bei einem Giftgasangriff durch Saddam Hussein’s Regime getötet wurden. 

Halabja war eine florierende Kleinstadt im Nordirak nahe der Grenze zu Iran, mit rund 80.000 Einwohnern, als die irakische Luftwaffe ihre Bevölkerung mit chemischen Waffen bombardierte. Die Bilanz war verheerend: mindestens 5.000 Tote, 10.000 Verletzte, 50.000 Menschen flüchteten in den Iran, wobei geschätzte 400 Kinder im Chaos verloren gingen. Letzteren ist ein Dokumentarfilm „Halabja: The lost children”  gewidmet, ihr Schicksal wird durch das Ausmaß der Tragödie oft nur am Rande wahrgenommen. Der Giftgasanschlag auf Halabja vollzog sich im Schatten der „Anfal-Operation“, jedoch mit dem gleichen Ziel: die Vernichtung der Kurden. Bei der Anfal-Operation wurden über 2.000 Dörfer zerstört, die höchste geschätzte Opferzahl geht von 182.000 Menschen aus.

Dem Westen und den Vereinigten Staaten kam der Giftgasanschlag auf Halabja ungelegen, waren sie doch Verbündete von Saddam Hussein im Krieg gegen den Iran, der kurz vor dem Ende war. Ein internationaler Aufschrei blieb aus, und aus geopolitischem Interesse schwiegen die Mächtigen.

Die ersten Bilder, die das Ausmaß der Katastrophe zeigten, verdankt die Welt unter anderem dem türkischen Fotografen Ramazan Öztürk, der Halabja am Folgetag des Angriffs erreichte – zu einem Zeitpunkt, als nichts Lebendiges mehr zu sehen war, wie er seine ersten Eindrücke schildert – und bevor die gesamte Stadt zur Sperrzone wurde. Das Foto eines Mannes, der sein Kind umklammert, wurde zum Symbol des Giftgasangriffes in Halabja.

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Wie diese Skulptur, erinnert vieles an die Tragödie: auf dem Weg ins Stadtzentrum steht ein Krankenhaus mit der Aufschrift „Hospital of Treatment Victims of Chemical Weapon in Halabja“, das 30 Jahre nach dem Anschlag immer noch nicht in Betrieb ist; ein symbolischer Friedhof, auf dem sich Grabsteine mit den Namen der Opfer reihen; eine Wandmalerei am Eingang des Gebäudes der Provinzregierung, die Menschen auf der Flucht in den Iran zeigt; und seit 2003 ein Monument mit einem Museum, das alle Gebäude in der Stadt überragt und drei Jahre später, bei Protesten der Bevölkerung gegen Korruption und Missmanagement der Regierung, in Flammen aufging – inzwischen jedoch wieder instand gesetzt ist.

Die Bevölkerung in Halabja fühlt sich vernachlässigt und vergessen, auch von ihrer eigenen kurdischen Regierung. Mangelnde Infrastruktur, schlechte Strom- und Wasserversorgung, sowie Arbeitslosigkeit bestimmen den Alltag. Ich betrete eine ehemalige Schule. Nicht Kriegsschäden, sondern mangelnde Instandhaltung haben das inzwischen baufällige Gebäude „zweckentfremdet“. In den ehemaligen Klassenzimmern wird hinter provisorischen Verschlägen Viehfutter für den Winter gelagert. Mäuse huschen über den Flur. Im Innenhof wuchert Unkraut, auf die Hausmauer ist ein Hakenkreuz gemalt – ein Symbol, das im gesamten Nordirak gelegentlich mal auftaucht.

Das Gefühl der Marginalisierung trug zweifellos auch dazu bei, dass in der Region um Halabja islamistische Extremisten Fuß fassen konnten, sind sich Experten einig. Ansar al-Islam kontrollierte Anfang der Jahrtausendwende ein kleines Gebiet, wo sie radikal-islamisches Recht durchsetzte. 2003 wurden sie von den Amerikanern bombardiert, viele von ihnen getötet.

Die Verurteilung des holländischen Unternehmers Frans Van Anraat, der 1987-1988 tonnenweise Chemikalien für die Herstellung von Chemiewaffen in den Irak lieferte, und schließlich 2005 wegen Beihilfe zu Kriegsverbrechen zu 15 Jahren Haft verurteilt wurde, führte schließlich zur Entscheidung des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag, die Anfal-Operation als Völkermord gegen die Kurden anzuerkennen. Das Wisconsin Project hat dahingehend recherchiert, welche Firmen aus welchen Ländern das damalige Regime mit Chemikalien und Technologien belieferte. Die Stadtverwaltung von Halabja spricht von mindestens 400 nicht-irakischen Firmen, die Saddam Hussein es ermöglichten, Giftgas zu produzieren.
Die Menschenrechtsorganisation „Gesellschaft für bedrohte Völker“ ist der Auffassung, dass der Völkermord nur dann zur Vergangenheit werden kann, wenn eine Bestrafung der Täter und eine Wiedergutmachung erfolgt, und stellt in ihrem Bericht „Iraq – Kurdistan: 30 Jahre Halabja. Gerechtigkeit für die Opfer des Völkermordes“ deutsche Firmen an den Pranger, die neben Chemikalien den Großteil der Anlagen errichteten, und damit die Giftgasproduktion ermöglichte.

Während in Halabja die Bevölkerung an den Spätfolgen und Erkrankungen leiden, die nachweislich mit dem Einsatz von Giftgas in Verbindung stehen, wie beispielsweise ein signifikanter Anstieg an Krebs-, Atemwegs-, Haut und Augenerkrankungen, Missbildungen, angeborene Herzfehler und erhöhte Herzversagen, Fehlgeburten und Unfruchtbarkeit, geht das Morden mit chemischen Waffen weiter. Der Giftgasangriff auf Ghouta durch das Syrische Regime im August 2013, bei dem zwischen 281 und 1,729 Menschen getötet wurden (genau Zahl ist nicht bekannt), sowie ein weiterer Einsatz chemischer Waffen im September 2013, bei dem 1,400 Zivilisten in der syrische Kleinstadt Erbin ums Leben kamen. Auch in Syrien ist das Regime, um chemische Waffen einzusetzen, auf die Lieferung von Chemikalien aus dem Ausland angewiesen.

Die Ereignisse in Syrien rüttelten bei der Bevölkerung in Halabja erneut Erinnerungen wach  – und es war bestimmt noch nicht das letzte Mal.

Autor: reginatauschek

Weltbürgerin.

3 Kommentare zu „Halabja: für viele ein lebenslanges Schicksal“

  1. Danke fürs Erinnern!

    Der Irak-Iran-Krieg (1. Golfkrieg) – ein kaum beachtetes Kapitel. Acht Jahre 1980-88 wütete er, brachte unendliches Leid über die Völker beider Länder. Angreifer war der Irak gegen den Iran, der nach der Machtübernahme Chomenis als zu schwach galt, um dem Anspruch des Irak auf die wichtigen Ölfelder im Grenzgebiet standzuhalten. Damals setzte das irakische Regime massiv Giftgas als Kampfmittel ein.

    Dazu Wikipedia
    „Der Krieg war durch extreme Brutalität gekennzeichnet, einschließlich des Einsatzes chemischer Waffen auf irakischer Seite. Der Irak wurde seit 1975 mit Lieferungen von technischem Gerät und Know-how von 150 internationalen Firmen, darunter 24 aus den USA, versorgt.[58] – Wie die UNMOVIC in ihrem Bericht von 2006 feststelle, hatte der Irak im Jahre 1981 bereits zehn Tonnen Senfgas (Lost) produziert. Im Laufe der Jahre kamen Tabun, Sarin und VX dazu. Der Irak hatte bis zum Jahre 1991 3850 Tonnen chemischer Kampfstoffe produziert, von denen 3300 Tonnen aufmunitioniert wurden. Das Chemiewaffenprogramm des Irak produzierte damit bis 1988 über 100.000 Sprengkörper, die als

    Fliegerbombe (250, 400 und 500 kg): 19.500 Stück
    Artilleriemunition (155-mm-Granaten): 54.000 Stück
    Raketensprengköpfe (122-mm-Raketenwerfer): 27.000 Stück

    auf iranische Stellungen sowie gegen die Zivilbevölkerung des Iran und Irak zum Einsatz kam“ Zitat Ende.

    All das war der Weltgemeinschaft (UNO) bekannt, es wurde vom Westen billigend in Kauf genommen, auch die SU spielte mit. Die Kurden, im Bemühen, ihre Selbständigkeit zu erringen, waren mal wieder zwischen alle Kriegsfronten geraten.

    Den Vergleich mit den Vorfällen in Syrien halte ich für fragwürdig, denn, soweit ich mich informieren konnte, ist es bis heute äußerst strittig, wer für die damaligen Giftstoff-Angriffe verantwortlich ist. Jedenfalls hat die syrische Regierung danach alle vorhandenen Chemiewaffen unter UN-Aufsicht vernichtet. Wenn immer wieder Drohungen wegen bevorstehender Giftgas-Angriffe durch die Presse geistern, so kann das sehr wohl auch ein Propagandamittel der Assad-Gegner sein.

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    1. Liebe Gerda Kazakou, vielen Dank für die Ergänzung! Über die Angriffe in Syrien wurde viel diskutiert und in der Tat, gab bzw. gibt es Zweifel darüber, wer verantwortlich ist. Auch in Halabja wurde vorerst der Iran verantwortlich gemacht, bis Dokumente und Aufzeichnungen die Beweise brachten. Möge das auch in Syrien gelingen, und die Verantwortlichen für dieses Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden.

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