Jerusalem und ihre Gegensätze

Vom religiösen Schmelztiegel in der Altstadt, dem Abstecher zu den ultraorthodoxen Juden und der Künstlerresidenz mit Salsaklängen. Ein ganz normaler Freitag. 

Jerusalem ist den Christen, Juden und Muslimen heilig. Ihre religiösen Stätten befinden sich in der Altstadt, einem Labyrinth aus engen Straßen und Gassen, in dem man sich schnell verlauft, ohne dabei verloren zu gehen. Hier kreuzen sich die Wege der Bewohner, Gläubigen, Pilger und Touristen, entlang zahlreicher Geschäfte und Souvenirläden und schwer bewaffneten Polizisten. Beschaulich ist es vor dem Frühstück.

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Pilger auf der Stadtmauer

Der Wächter öffnet das Eisentor zur Treppe, die auf die Stadtmauer führt. Dort haben Pilger bereits ihre Plätze zwischen den Zinnen und Schießscharten eingenommen, und lesen aus der Bibel. Die einen eher zurückhaltend, die anderen lautstark und enthusiastisch mit üppigem Gebaren. Bibelverse in den Sprachen Deutsch, Englisch und Holländisch sind zu hören. Ein Pilger bläst kräftig ins mitgebrachte Horn, als verhelfe er damit seiner Botschaft zusätzliche Tragweite. Zufrieden blickt er in die Stoßrichtung seiner Worte, während Menschen von den Strassen irritiert zu ihm hochschauen. Shalom brüllt er mir entgegen, „have a nice day“ mir hinter her, bevor er zum nächsten Vers ansetzt.

Ich verlasse die alte Stadtmauer und begebe mich zur bedeutendsten Heiligenstätte der Juden, die Klagemauer. Auf kleinen Zetteln werden Wünsche, Gebete, Danksagungen notiert, und in die Ritzen der Felsblöcke gesteckt. Männer und Frauen beten getrennt. Schläfenlocken der Männer schwingen im Rhythmus ihrer wippenden Oberkörper, andere beten unauffällig mit der Hand die Mauer berührend, mitunter den Kopf an diese gelehnt.

Gekleidet in weißen Kaftanen und ihre Gebetsteppiche geschultert, eilen Muslime zum Freitagsgebet in die Al-Aqsa Moschee. Von der Via Delarosa kommend, ziehen Franziskaner Mönche, gefolgt von ihrer Glaubensgemeinschaft und mehreren Pilgergruppen, mehrsprachig singend zur Grabeskirche. Ihr Gesang wird kurz vom Ruf des Muezzin übertönt. Klangwolken mischen sich mit den Düften orientalischer Gewürze und Weihrauch und sind ebenso im Fluß durch die Gassen.

 

Ich verlasse die Altstadt, spaziere durch Westjerusalem und streife den Stadtteil Mea Shearim. Seit Ende des 19. Jahrhunderts leben hier ultraorthodoxe Juden. Hier scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Gelebt wird nach der traditionellen Auslegung der Thora, der hebräischen Bibel. Radio und Fernseher gibt es nicht, Neuigkeiten werden auf Plakaten vom Brett und den Hauswänden verkündet. Männer mit Schläfenlocken tragen schwarze Mäntel, Hut und weißes Hemd. Frauen sorgen mit sittsamer Kleidung für unerwünschte Aufmerksamkeit seitens Aussenstehender. Kleidungsvorschriften gibt es auch für Besucherinnen, worauf Schilder hinweisen. Demnach beinhaltet modeste Kleidung: geschlossene Bluse, lange Ärmel, langer Rock, keine eng anliegende Kleidung.

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Ich spaziere entlang der Hauptstraße, vorbei an zwei roten Briefkästen und Brettern mit den letzten Neuigkeiten. Lebensmittel-, Kleider- und Blumenläden erinnern mich an Bilder früherer Generationen, Bücher werden in Regalen auf dem Trottoir angeboten, ein Handwerker hat sich auf die Reparatur von Kinderwägen spezialisiert. Diese werden zahlreich durch die Straßen geschoben, das nicht verwundert, zumal eine Durchschnittsfamilie sieben Kinder hat. Mit Kinderwägen werden aber auch Einkäufe transportiert. Die meisten Menschen sind in Eile und bewegen sich im Laufschritt. Ich suche ein Straßenkaffee, um dieses ungewöhnliche Treiben besser beobachten zu können – ich finde keines.

Ein Mann marschiert an mir vorbei, sein kleines Nokia ans Ohr gedrückt. Das fällt auf, denn sonst sehe ich keine Handys. Ich bemühe mich, ein freundliches Lächeln, ein Kinderlachen, einzufangen. Es gelingt mir nicht. Blickkontakte werden vermieden, und trotzdem sind viele Augen auf mich gerichtet, wenn ich zur Kamera greife.

Gerade einmal 15 Gehminuten von Mae Shearim entfernt, befindet sich die Künstlerresidenz HaMiffal. Ein Gegensatz, wie er krasser nicht hätte sein können. Hier kommen Künstler und junge Menschen zusammen, lachen, klopfen Texte in ihre Computer, diskutieren in Englisch, Französisch, Arabisch, Hebräisch oder je nachdem, was der Gast an Sprache mitbringt. Zu Salsamusik wird beschwingt vegane Köstlichkeit serviert, später wird noch Jazz und Soul zu hören sein. Hier wird zeitgenössische Kunst gemacht, Konzerte angeboten, gemeinsam gekocht, weit über die eigenen Grenzen hinaus gedacht, und ein friedliches Miteinander von Menschen unterschiedlicher Ethnien, Religionen und Kulturen gelebt. Ich genieße die Atmosphäre und plane bei einer Tasse Cappuccino meine Fahrt nach Bethlehem. Dazwischen schweifen meine Gedanken immer wieder ab – zum Pilger, der heute morgen die Stadtmauer zu seiner Bühne machte, und zur ultra-orthodoxen jüdischen Gemeinschaft in Mae Shearim.

Autor: reginatauschek

Weltbürgerin.

8 Kommentare zu „Jerusalem und ihre Gegensätze“

  1. Du hast die Atmosphäre und das Treiben dort so schön und echt beschrieben, dass man glauben könnte, man sei selber da. Eines meiner Traumreiseziele ist auf jeden Fall Israel und durch deinen Beitrag ist mir noch einmal bewusst geworden, wie sehr es sich lohnt. Mir persönlich gefällt die Lebensweise in solchen Ländern so wieso viel besser als hier, in diesem etwas „sterilem“ und strengen Deutschland.
    Bei deinem Artikel bekommen ich direkt Heimweh (bin im Sudan aufgewachsen)!
    Alles Liebe
    rahellyelli

    Gefällt 1 Person

  2. Auch von mir ein herzliches Dankeschön für diesen Bericht. Bei den Szenen im orthodoxen Teil Jerusalems kamen mir eigene Erinnerungen hoch an die Kinder, deren Arme und Beine streng vor jedem Lichtstrahl geschützt waren, und die kleinen Jungen, die, den Kopf geschoren, schon Schläfenlocken und den breitrandigen Hut trugen und mit Buch unter dem Arm zum Unterricht eilten. So bleich die Gesichter, fast durchscheinend, und nirgends ein Lächeln. Als neugierige Besucherin war ich auch damals (1967, kurz vor dem 7-Tage-Krieg und der Annexion) schon Ziel finsterer Blicke. Das ist nicht Orthodoxie, das ist in vielen jahrhunderten verinnerlichtes Ghetto. Liebe Grüße!

    Gefällt 1 Person

    1. Liebe Gerda, herzlichen Dank für dein Feedback und sehr interessant auch deine Erfahrungen dazu. Für mich ist überraschend, wie man dieses Ghettoleben aufrecht erhalten kann, inmitten der Moderne. Diese Menschen sind ja täglich mit dem modernen Leben konfrontiert, alleine schon auf dem Weg zur Klagemauer. Es gibt aber inzwischen auch Organisation, die jungen Menschen beim Ausstieg aus dieser Gesellschaft helfen, mit Jobangeboten und psychologischer Betreuung. Liebe Grüße Regina

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