Haiti chérie

Vor 10 Jahren  …  unvergessene Momentaufnahmen einer verheerenden Katastrophe. 

In wenigen Schritten springe ich über viele Stufen dem Draußen entgegen und habe nur eines vor Augen: raus aus dem Haus, bevor es einstürzt.
Armand, unser Wächter, hält mich beschützend in seinen Armen während ich angstvoll auf die sich neigenden Palmen blicke und er mit kräftiger Stimme zum Himmel ruft: „Jesus, Jesus“.
Kinderbeine ragen zwischen den Betontrümmern einer eingestürzten Schule zum Himmel.
Ein Mann wird auf einer Holzlatte abtransportiert, ich starre in die Wunde seiner Schulter, wo sein linker Arm fehlt.
Die Wut brennt in mir, als ich von dem dreijährigen Mädchen höre, das kurz nach dem Erdeben im Park vergewaltigt wurde.
Sein Sohn springt vom dritten Stock eines Schulgebäudes bevor dieses einstürzt und überlebt unverletzt – als einziger in seiner Klasse.
Sylvie hämmert um drei Uhr morgens ans Bürotor und will wissen, was mit mir los ist, nachdem sie hörte, dass das Hotel, indem sich mein Apartment befindet, eingestürzt ist.
Nach zwei Tagen laufen im Schutt haben sich meine Sandalen endgültig aufgelöst und ich stelle fest, dass ich mit den Socken nicht weiter komme.
Ein Deutscher kontaktiert mich über Social Media, er wartet vergeblich auf ein Lebenszeichen seiner Verlobten. Zwei Tage später bekomme ich folgende Nachricht: „Soeben erfahre ich, sie ist tot. Danke für Ihre Bemühungen. Ich wünsche Ihnen alles Gute“.
Baby- und Kinderleichen, liegen mit weißen Tüchern bedeckt am Straßenrand.
Der Fremde mit dem nicht unbekannten Gesicht kommt auf mich zu, wir sehen uns kurz an, umarmen uns und gehen weiter. Es gibt Momente, da erübrigen sich Worte.
Mir läuft der Schauer über den Rücken, als ich mich zu Emmanuel, dem Chauffeur, sagen höre: „Weiche aus und überfahre den Toten nicht, der hier liegt.“ Als spräche ich über einen überfahrenen Hund,
denke ich, und schweige betroffen.
Entsetzt haftet mein Blick auf verkohlten Menschenteilen und Resten eines Autoreifens. Ich begreife die Folgen verübter Lynchjustiz nach einem Diebstahl.
Jeden Abend öffne ich die Webseite der Vereinten Nationen und lese die Namen der Opfer, die immer länger wird, blättere durch die Bilder der
Verstorbenen, erinnere mich an Begegnungen und gemeinsame Erlebnisse und heule mich in die Nacht.
Drei Tage nach dem Beben stehe ich fassungslos vor meinem, dem Erdboden gleichgemachten Apartment, während Leichengeruch vom
Nachbarhaus herüberzieht, und Tränen über meine Wangen laufen.
Von einem Sicherheitsteam nehme ich einige Tage später große schwarze Säcke entgegen, mit meinen aus dem Betonschutt geborgenen Gegenständen: zertrümmerte Laptops, Teile einer Kamera, zersprungene Flashcards, kaputte Festplatten, eine plattgedrückte Alu-Transportkiste, ein zerfetztes Buch und diverse verstaubte und zerrissene Kleidungsstücke. Nur eines, das kleine schwarze Ensemble, mit dem ich meine letzte Show tanzte, blieb unbeschädigt.
Ich höre von der Schwangeren, die unter ihrem eingestürzten Haus Zwillinge zur Welt brachte und Tage später lebend mit ihren Kindern geborgen wird.
Plötzlich kommt Monsieur Puzo, mein Französischlehrer und Lehrmeister der haitianischen Geschichte und Kultur, bei der Tür herein. Ein unglaublicher Glücksmoment.
Der siebenjährige meiner Kollegin kriecht unter meinen Schreibtisch und beginnt meine Beine zu streicheln und liebkosen. Mit flehendem Blick klammert er sich wie eine Zecke an meinen Unterschenkel, als ich versuche, ihn unter dem Tisch hervorzuziehen.
Freiwillig operiert ein amerikanischer Chirurg mehr als 30 Stunden ohne Unterbrechung. Berni, ein deutscher Architekt, reist aus Santa Domingo an und unterstützt ihn, die Wasserversorgung instandzusetzen und räumt auf: Er wirft die krisenunerfahrenen amerikanischen Missionare mit Kreislaufschwäche aus den Krankenbetten und schafft Platz für die Erdbebenopfer, die er am Boden liegend vorfindet.
In 22 Interviews innerhalb weniger Stunden schildere ich Journalisten die Situation und antworte auf die immer wieder gleichen Fragen. Meine Gesprächstherapie.
Um zwei Uhr morgens klingelt das Telefon. Nach 36 durchgehenden Arbeitsstunden kann ich meinen Namen nicht mehr aussprechen. Ich ziehe das Telefonkabel aus dem Stecker. Ich kann nicht mehr.
Drei Wochen nach dem Beben wieder dieser anonyme Anrufer, der bereits vor zwei Monaten die Sicherheitsleute der Vereinten Nationen beschäftigte. Auch er hatte überlebt.

In unvergessener Erinnerung bleiben mir alle Freundinnen, Freunde und Bekannte, die diese Katastrophe nicht überlebten.  

Anmerkung:
Am 12. Januar 2010 erschütterte ein verheerendes Erdbeben den Inselstaat Haiti. Das Beben traf uns völlig unerwartet. 60 Sekunden, die das Leben vieler auslöschte, zerstörte, veränderte. Vom Februar 2008 bis August 2011 arbeitete ich für die Welthungerhilfe in Haiti.

 

 

 

 

 

Autor: reginatauschek

Weltbürgerin.

6 Kommentare zu „Haiti chérie“

  1. Liebe Regina, Du starke und mutige Weltbürgerin! Danke für Deinen Bericht über Haiti, er geht mir sehr nahe, auch weil ich mich an manche Menschen und Plätze erinnere, die Du beschreibst.
    Ich wünsche Dir viel Glück im neuen Jahr! Herzliche Grüße!
    Alenka

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    1. Liebe Alenka, wie schön von Dir zu hören, und vielen Dank für deinen Kommentar! 10 Jahre ist es schon wieder her, 11 Jahre als ihr den Film gedreht habt. Wie die Zeit vergeht … Ich wünsche dir auch alles Liebe und Gute für dieses Jahr! Regina

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