Der Weg zur Schule

Egal ob Sommer oder Winter, die Sonne war noch nicht aufgegangen und oft war es noch dunkel, als sie, ich nenne sie Friederl, das Haus verließ. Der Weg ins Tal war steil und führte ins angrenzende Bundesland, die Steiermark. Im Wanderführer würde heute stehen: gute Grundkondition und Trittsicherheit erforderlich. Achtung, weidende Kühe. Höhenunterschied 200 Meter, Dauer ca. 1 Stunde.

Jeden Morgen packte die kleine Friederl Hefte und Bücher für den Unterricht, und Schnapskarten für den Heimweg in ihre lederne Schultasche. Diese wog schwer. Es war gegen 6:30 Uhr morgens, als sie das Haus verließ. Gelegentlich schaute sie bei Franzi vorbei, dem Nachbarsmädchen, das 500 Meter entfernt im nächsten Bauernhof wohnte. Die Tür ins Haus führte über zwei Stufen direkt in die Wohnküche. Dort bot sich immer dasselbe Bild. Am Esstisch in der dunklen Ecke saß immer auf demselben Platz der Vater, und löffelte immer aus derselben napfähnlichen Kaffeetasse das darin getunkte Brot. Er sagte immer nichts und war unauffällig freundlich. Franzi schlüpfte in ihre Schuhe, und die beiden gingen los.

Blick von Friederl’s Bauernhof zum Nachbarn

Der Schulweg führte auf schmalen Wegen und Steigen ins Tal. Die Kinder marschierten über Wiesen, entlang von Getreidefeldern und Wäldern und querten einen Bach. Rehe und Hasen kreuzten ihre Wege, gelegentlich rief der Kuckuck, hier und da war Vogelgezwitscher zu hören. Kornblumen tanzten zwischen den Gersten im Wind. Es war noch still am frühen Morgen. 200 Höhenmeter stiegen sie täglich hinab, vom Bauernhof am Berg in die Volksschule ins Tal, von Niederösterreich in die angrenzende Steiermark. Einen Schulbus gab es in den 50er Jahren noch keinen.

Über Bergrücken und Wiesen ins nächste Dorf

… im österreichischen Dreiländereck …

Die Landschaft im auslaufenden Wechselgebiet im Osten Österreichs ist hügelig, von Wiesen und Wäldern durchzogen und im Sommer beeindruckend grün. Vereinzelt stehen Bauernhäuser, die auf Vieh-, Land- und Forstwirtschaft ausgerichtet sind. Zum Nachbarn entlang des Tales oder auf dem gegenüberliegenden Hügel blickte man mit dem Fernglas, ein Telefon gab es noch keines. Die meisten Höfe haben Hausnamen, die sich von den Familiennamen der Bewohner unterscheiden. Noch heute ist der Hofname im Sprachgebrauch allgegenwärtig, da Neuigkeiten oft mit Bezug auf den gesamten Hof und im Plural kommuniziert werden, wie z.B. „.. beim Koissa hoben’s an Buam kriagt“ oder „beim Goaßbauern wird heut‘ g‘maht“. 

Der Schulweg über grüne Wiesen und entlang von Feldern und Wäldern

Trotz kinderreicher Familien war die Bevölkerungsdichte in den 50er Jahren spärlich. In der damals noch 8-jährigen Volksschule gab es insgesamt nur 3 Klassen, sodass mehrere Jahrgänge zusammengefasst wurden. Innerhalb einer Klasse wurden die Kinder nach Schulstufen gruppiert und entsprechend unterrichtet bzw. mit Lerninhalten beschäftigt.

Unterrichtet wurden die Kinder vom Schuldirektor und seiner Gattin, die Frau Schuldirektor, die seinerzeit noch im Schulgebäude wohnten, sowie einer weiteren Lehrerin.

… an Wintertagen …

Geschwänzt hatte Friederl die Schule nie. Auch nicht im Winter, als diese noch sehr schneereich waren, und der Schulweg nach heftigen Schneefällen entsprechend beschwerlich. Im Gegenteil.  Auf diese Tage freute sich Friederl ganz besonders, denn es kamen nur wenige Kinder in die Schule, und anstelle eines regulären Unterrichts hat die Frau Schuldirektor, wie sie damals genannt wurde, den Kindern Geschichten vorgelesen. An solchen kalten Tagen wurde der Holzofen eingeheizt, und alle rückten und reihten sich rund um das knisternde Feuer im Ofen, wärmten sich, trockneten ihre Kleidung und lauschten aufmerksam den Geschichten. Es waren für Friederl die gemütlichsten und zugleich schönsten aller Schultage.

… die Rorate und die Ohrfeige …

Auf den Höfen wurde katholisch gelebt. Das Gebet vor dem Essen und der Kirchenbesuch am Sonntag waren selbstverständlich. Obwohl selbst nur mäßig fromm, bestand Friederl’s Großmutter auf den täglichen Besuch der Rorate-Messen in der Vorweihnachtszeit, die bereits um 7 Uhr in der Dorfkirche begann. Für Friederl bedeutete dies, am Morgen noch früher den Hof zu verlassen.  

Die Kirche befand sich gleich gegenüber der Volksschule und so passierte es eines Morgens, dass es vier Kinder anstatt in die Messe gleich in die Schule zog. Die Klassenzimmer waren noch leer und ausgekühlt, und die Kinder nutzten die Gelegenheit und spielten fangen. Das Vergnügen dauerte nicht lange, als sich plötzlich der Raum verdunkelte und der Schuldirektor den Türstock füllte. Es bedurfte kaum Worte. Reuig traten die vier Kinder an, ihre Blicke krallten sich in den Holzboden. Jeder und jede kassierten vom Schuldirektor eine schallende Ohrfeige. Damit nicht genug, denn zum Unterrichtsbeginn musste sich jedes der vier Kinder zur Strafe in eine Ecke der nächsthöheren Schulklasse stellen. Die Ohrfeige hatte Friederl rasch weggesteckt, doch in der Ecke des Klassenzimmers stehen zu müssen, wo der ältere Nachbarsbub saß, war sehr beschämend und die Angst groß, dass Großmutter von der geschwänzten Messe erfahren könnte. Die Großmutter erfuhr es nie.

… der verlorene „Schierhagl“ … 

Der Schürhaken, ein Teil des Kaminbestecks, war gebrochen und Friederl brachte ihn auf dem Weg zur Schule zum Schmied, um ihn zu reparieren. Einige Tage später holte sie ihn auf dem Heimweg wieder ab. Es war ein Wintertag mit hohem Pulverschnee. Friederl musste kurz zur Seite treten, legte den Schürhaken in den Tiefschnee, wo dieser, trotz langer Suche, auf Nimmerwiedersehen im lockeren Schnee verschwand. Viel Gerede um den verlorenen Schierhaken füllte die folgenden Tage und Wochen. Es war an einem frühlingshaften Sonntagmorgen, als Friederl‘s Onkel auf dem Weg in die Kirche plötzlich den reparierten „Schierhagl“ am Waldrand entdeckte. Die Welt war wieder in Ordnung.

… der Heimweg …

Der Heimweg war für Friederl oft ein langer. Weniger wegen den 200 Höhenmetern, die sie bergauf zurücklegen musste, sondern weil man bei passendem Wetter im Wald einen Zwischenstopp zum Kartenspielen einlegte. Es war ein Krater, die Narbe eines Bombeneinschlages aus dem Weltkrieg, der mit Laub gefüllt war, und den Kindern Sicht- und Windschutz bot. Dorthin eilten sie nach dem Schulunterricht, setzten sich in die Grube, legten sich die Schultaschen auf die Knie und packten die Spielkarten aus. Es wurde zu dritt oder zu viert geschnapst.  

Auf dem Heimweg und der mit Laub gefüllte Krater

Auch sonst war der Heimweg für Friederl häufig kein direkter. Oft begleitete sie noch andere Schülerinnen und Schüler nach Hause. Für all die Umwege gibt es keine griffige Erklärung, und es lag vorwiegend daran, dass Friederl Freude an der Natur und an der Gesellschaft hatte und dafür gerne Umwege in Kauf nahm. 

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Diesen Sommer hatte ich erstmals die Gelegenheit, diesen Weg, den Schulweg meiner Mutter, zu wandern. 

Danke Mama, dass Du mir deinen Schulweg gezeigt und all die damit verbundenen Erinnerungen mit mir geteilt hast. Jetzt verstehe ich noch besser, woher deine Naturverbundenheit und Freude am Wandern kommen, die du mir bereits als Kind weitergegeben hast. Dafür bin ich Dir sehr dankbar.

Autor: reginatauschek

Weltbürgerin.

2 Kommentare zu „Der Weg zur Schule“

  1. Das können sich die Schüler (innen) nicht mal im Traum vorstellen, unter diesen Umstände erwachsen zu werden. Für dich nachvollziehbar.
    Erinnerungen verblassen, halte es in einem Buch fest. Eine Würdigung für unsere Mütter, die uns die Freiheit gelassen haben, unseren Lebensentwurf zu gestalten. Die Vergangenheit, die Erziehung, unser Verständnis, das Zuhören prägt uns bis heute. Vielen Dank .

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