Das Zelt: ein Spiegel des sozialen Lebens der Beduinen

Das aus Ziegenhaar gewebte Beduinenzelt ist mehr als nur eine Unterkunft. Es spiegelt das soziale Leben, ihre Gegensätze und ist Ausdruck von Identität. Frauen zeigen ihre Kreativität, finden Schutz für ihre Privatsphäre und ein Stück Freiheit, auch wenn Stoffbahnen sie von den Männern trennen. 

Gemeinsam mit einem befreundeten Beduinen besuche ich Hawre tief in der Wüste im Südosten Jordaniens. Sein Zelt steht geschützt vor einem Fels, das er mit seiner Familie bewohnt. Jungziegen hüpfen fröhlich umher, Schafe rupfen an Halmen und ein Kamel steht an einem Bein angebunden nebenan und blickt in die Weite. Hawre streckt mir zur Begrüßung die Hand entgegen, und bittet mich ins halb-offene Zelt. Ich ziehe die Schuhe aus, und trete ein.
In der Mitte des Zeltes befindet sich eine Feuerstelle, um diese sind Teppiche und Matratzen ausgelegt. Wir haben Reis, Zucker, Tee und gegen meinen Willen Zigaretten mitgebracht. Zugegeben – über letzteres freut sich der Hausherr besonders.
Hawre war sofort bereit eine Ziege zu schlachten. Nein, funken wir dazwischen – das wollen wir nicht. Wir bleiben gerne zum Abendessen aber bitte keine Umstände. Nach einigem hin und her konnten wir ihn davon abhalten. Die Gastfreundschaft und Großzügigkeit sind wesentliche Eigenschaften der Beduinen. 

Arabischer Kaffee als Symbol der Gastfreundschaft

Ich mache es mir auf der Matratze bequem. Im Feuer steht eine langschnabelige Kaffeekanne aus Messing. Beduinen bereiten den Kaffee aus grünen, ungerösteten Kaffeebohnen zu, verfeinern ihn mit Kardamom und trinken ihn – im Gegensatz zum stark gesüßten Tee – ohne Zucker. Hawre‘s jüngster Sohn schenkt Kaffee in ein kleines Porzellanschälchen und reicht es mir. Mit zwei Schluck schlürfe ich das Schälchen leer, er schenkt nach. Ich trinke es aus, schwenke die Tasse hin und her, und der Junge nimmt sie wortlos entgegen. Ein Ritual, mit dem ich bereits vertraut bin. Mit dem Schwenken der Tasse deutet der Gast darauf hin, dass er genug hat. Maximal drei Mal kann man sie zum Nachschenken reichen, alles weitere wäre unhöflich. Die Tasse wird in einem kleinen Behälter mit Wasser gewaschen und dem Nächsten gereicht. 

Das Zelt und seine besonderen Eigenschaften

Die Sonne ist hinter dem Berg verschwunden und es ist merklich kühler geworden. Die Zeltwände schützen vor dem Wind, und das Feuer wärmt. Ein original Beduinenzelt ist aus Ziegenhaar gewebt, die rund 80 cm breiten Bahnen werden an der Längsseite zusammengeheftet. Die Zeltteile werden von Holzmasten gestützt, und an den Außenseiten mit Seilen am Boden verankert. Die Größe wird dem Bedarf flexibel angepasst. Seitenteile können von unten entsprechend auf- und abgerollt werden, sodass an warmen und heißen Tagen die Luft zirkuliert. Das Textil aus Naturhaar zeichnet sich durch besondere Eigenschaften aus: Es schützt nicht nur vor Kälte und Sonne, sondern ist darüber hinaus wasserdicht, da sich mit dem Regen das Gewebe ausdehnt und verdichtet. Das natürliche Öl im Naturhaar hält zudem die Feuchtigkeit ab.

Das soziale Leben spiegelt sich im Zelt

Das Zelt wird traditionell von der Frau gewebt und von ihr bzw. unter ihrer Anleitung aufgebaut, und ist in einen öffentlichen und privaten Bereich unterteilt. Die Beduinenkultur basiert auf einer Geschlechtertrennung, wobei sich Männer und Frauen symbolisch gegenüberstehen. Jeder hat seine Rolle und die damit verbundenen Aufgaben zu erfüllen, die sich ergänzen. Die Arbeit der Frauen wird von den Männern durchaus wertgeschätzt.
Der öffentliche Zeltbereich ist den Männern vorbehalten, hier werden Gäste empfangen und Gastfreundschaft gelebt. Der private Bereich ist für Frauen bestimmt, er begründet sich durch die Unantastbarkeit der Familie und wird geschützt. Hier wird Brot gebacken und gekocht, Kinder beaufsichtigt, private Gegenstände aufbewahrt und es ist der gemeinsame Schlafplatz der Familie.
Die beiden Bereiche sind entweder durch einen Vorhang voneinander getrennt, oder bestehen als zwei separate Einheiten nebeneinander.

Unter den Beduinen gibt es ein kollektives Verständnis darüber, wie man sich als Gast bzw. jemand, der nicht zum engsten Familienkreis gehört, dem Zelt nähert. Männer gehen immer direkt zum Besucherzelt, das sich zumeist auf der rechten Seite befindet, Besucherinnen zu den Frauen im privaten Bereich. Diese Verhaltensnorm wird von allen Beduinen streng eingehalten, nähert sich ein männlicher Gast dem Frauenzelt, gilt dies als außerordentlich unhöflich und respektlos.

Kinder bewegen sich in beiden Bereichen frei. Dass sich die kleine Tochter im Männerzelt an den Vater kuschelt, ist dabei ebenso selbstverständlich, als wenn ich, als Europäerin, im Besucherzelt bei den Männern sitze, wie dies eben der Fall ist, während mir Hawre und sein ältester Sohn vom Leben der Beduinen erzählen.

Die Bedeutung des Zeltes für die Frauen  

Frauen haben einen besonderen Bezug zum Zelt. Sie weben die Teile aus dem Haar ihrer Ziegen, bauen es auf und haben dadurch eine gewisse Kontrolle als auch einen emotionalen Bezug zur Unterkunft. Mit der Gestaltung des Zeltes bringen Frauen ihr Talent gegenüber den Besuchern zum Ausdruck, ohne mit ihnen in Kontakt zu treten. Darüber hinaus sind Beduinen mit dem Aufbau eines Zeltes mit dem Land verbunden, das insbesondere für nomadische Beduinen von wesentlicher Bedeutung ist.
Mit der Ansiedelung in Dörfern sind zwar wesentliche Vorteile verbunden, jedoch gehen diese Aspekte weitgehend verloren. Der Mann erwirbt das Grundstück für den Bau des Hauses, das schließlich ihm gehört. Das Haus ist auf materieller und nicht mehr auf emotionaler Grundlage errichtet. Es wird zum Eigentum und Statussymbol, womit neue Werte, wie Materialismus und Besitztum an Bedeutung gewinnen. 

Im Zelt wird zwar die Geschlechtertrennung gelebt, allerdings sind die Grenzen weitgehend fließend. Ausserhalb des Zeltes wandern Frauen mit den Ziegen und können sich frei bewegen. Zwar nehmen Frauen an Gesprächen im „Männerzelt“ nicht unmittelbar Teil, können aber bei Interesse oft der Kommunikation folgen, wenn die beiden Bereiche durch einen Vorhang getrennt sind. Mit dem Einzug in ein modernes Haus sind die Grenzen durch Mauern klar gezogen und undurchdringlich, sodass viele Frauen das Leben in Häusern als sehr einschränkend empfinden, zumal gesellschaftliche Normen weiterhin bestehen.

Der Abend im Besucherzelt

In sehr entspannter Atmosphäre sitzen wir ums Feuer. Hawre erzählt Anektoten aus seinem Leben und unterhält die Anwesenden. Weit entfernt vom nächsten Telefonmasten wird hier abends nicht im Internet gesurft, sondern man erzählt sich Geschichten. Der Begriff Freiheit und Zufriedenheit bekommt hier durch seine Einfachheit und Bescheidenheit eine neue Dimension. Von den Frauen dringt gelegentlich ein Lachen und Geschirr klappern herüber. „Das Abendessen ist fertig“, ruft Hawre’s Tochter. Die Frauen haben frisches Beduinenbrot gebacken. Zerkleinert und in Olivenöl getränkt wird es auf einem großen Metallteller serviert. Wir rücken an den Tellerrand, und jeder greift mit seiner recht Hand zu. Das Olivenöl ist von bester Qualität aus dem Dorf und entfaltet in der Wüste, wie ich finde, sein volles Aroma. Der Bauch ist rasch gefüllt und jeder fällt mit einer gewissen Schwere in eine Seitenlage. Zum Abschied trinken wir noch eine Tasse Tee.

Mehr über das Leben der Beduinen erfahren Sie in meinem Vortrag im Rahmen des Symposium „WER sind WIR?“ Identitäten und Identitätspolitiken von Beduinen in Jordanien“

Autor: reginatauschek

Weltbürgerin.

3 Kommentare zu „Das Zelt: ein Spiegel des sozialen Lebens der Beduinen“

  1. ein schöner informativer Bericht, danke dafür. Ich habe in Jordanien köstliche Webarbeiten von Beduininnen gesehen, deren Ausstellung und Vermarktung unter Förderung durch die Frau des Königs stand. In Aqaba fand ich in einem Lager alte Beduinenkunst und erfuhr, wie über tradierte Muster der Status der Frauen mitgeteilt wird.

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