„Die Kurden haben keine Freunde, aber viele Berge“ lautet ein kurdisches Sprichwort und scheint im Augenblick den Nagel auf den Kopf zu treffen. Trotz massiven Widerständen der internationalen Staatengemeinschaft stimmen die Kurden morgen über ihre Unabhängigkeit ab.
Auf den Straßen in Erbil ist es heute ruhig. Anstatt des erwarteten Feiertages ist „business as usual“ angesagt. Die rot-weiß-grün gestreifte kurdische Flagge mit strahlender Sonne in ihrer Mitte, ziert – in allen vorstellbaren Größen – Straßen, Häuser, Geschäfte, öffentliche Gebäude und Fahrzeuge. Seit Monaten wird die Bevölkerung über regierungstreue Medien mit der Unabhängigkeitsthematik vertraut gemacht. Letzte Woche sprachen Präsident Masud Barzani und Regierungsmitglieder in gefüllten Stadien zum Volk – tausende Menschen jubelten. Es wurde gefeiert und getanzt – alles unter dem kräftigen Schwung der kurdischen Flagge. Mit Fahnen geschmückte Autos hupten sich durch die Straßen und machten in guter Laune auf sich aufmerksam. Auch Feuerwerke blitzten hier und da mal auf. Die Kurden sind für den morgigen Gang zur Urne eingestimmt. Jedoch nicht alle.
Spontan frage ich zehn Kurden, ob sie morgen zur Wahl gehen. Sieben von ihnen antworten mit einem mehr oder weniger euphorischen ja. Einige von ihnen sehen die Chance aber auch ihr Recht auf einen unabhängigen Kurdenstaat, der ihnen bereits vor hundert Jahren versprochen wurde. Andere sehen es als ihre Pflicht gegenüber ihren Vätern und Großvätern, die als Peshmerga für Kurdistan kämpften.
Drei von ihnen sehen die Sache etwas anders. Mahmoud (42) möchte mit Politik nichts zu tun haben, „unsere Politiker arbeiten nur für ihren eigenen Vorteil“ – er bleibt der morgigen Wahl fern. Auch Ali (38) sieht keine Notwendigkeit zu wählen und fügt hinzu „bringt nichts, das Ergebnis steht fest und wenn es nicht den Wünschen entspricht, dann wird man dafür sorgen. Wozu wählen?“. Hussam (34) erklärt mir, „Kurdistan ist noch nicht bereit für eine Unabhängigkeit. Unsere Hausaufgaben wurden noch nicht gemacht, aber das kann man hier nicht laut sagen“. Er wird morgen entscheiden, ob er zur Wahl geht.
Die internationale Staatengemeinschaft ist gegen die Durchführung des Referendums – bis auf einen: Israel. Vehemente Gegner sind neben Irak, insbesondere die Staaten Türkei, Iran, Syrien, die selbst eine kurdische Minderheit beherbergen, und das Risiko für Unabhängigkeitsbestrebungen der Kurden in ihren Ländern befürchten. Aber auch die USA, die Vereinten Nationen und die meisten europäischen Länder halten den Zeitpunkt für die Durchführung des Referendums für ungünstig.
Den Pressemeldungen in den letzten Tagen war kaum Folge zu leisten, zumal sich die Ereignisse regelrecht überschlugen. Nun ist klar: Morgen, den 25. September 2017, stimmen die Kurden über ihre Unabhängigkeit ab, und zwar entgegen der Entscheidung des obersten Gerichtshofes in Bagdad, der die Durchführung des Referendums als gesetzeswidrig ablehnte.
Irak, Iran und die Türkei haben sich bereits zu Gegenmaßnahmen abgestimmt – wirtschaftliche und militärische Maßnahmen wurden angedroht. Zudem sind bereits irakische Regierungstruppen und schiitische Milizen nahe der Stadt Kirkuk aufmarschiert.
Bereits vor Wochen haben Kurden begonnen ihre Nahrungsmittel aufzustocken. Viele rechnen mit vorübergehenden Grenzschließungen zur Türkei und dem Iran sowie mit Preiserhöhungen für Nahrungsmittel.
Die Sonne für einen unabhängigen Kurdenstaat steht am Horizont – nah und doch noch weit weg. Ob sie für einen eigenen Staat diesmal aufgehen wird, ist im Augenblick nur schwer vorstellbar.