Mit 17 Jahren ist er der älteste, der kleinste und im Galopp den anderen zumeist eine Nasenlänge voraus. Fliegen sind ihm ebenso lästig wie mir. Heute ist er mein Prinz – sein Name: Tautropfen.
In der Mongolei leben rund drei Millionen Pferde, somit kommt auf jeden Einwohner ein Pferd – ein namenloses Pferd. Eine Tatsache, die für drei Österreicherinnen nur schwer verdaulich ist, zumal auf unseren Bauernhöfen nahezu alles, was sich dort bewegt, benamst ist. Daher drängt sich das Bedürfnis auf, unsere Pferde in der Mongolei, mit denen wir acht Tage durchs Orkhon Tal reiten, zu benennen.
Es ist frühmorgens und ich streife durchs Gras. Die Üppigkeit und der Glanz der Tautropfen faszinieren mich – wie Glasperlen hängen sie an den Halmen. Ich spaziere zu dem mir zuteilten Pferd und flüstere ihm ins Ohr: „Guten Morgen, mein Prinz. Ich habe einen Namen für Dich. Ich nenne dich nunmehr Tautropfen“.
Auch meine beiden Freundinnen benannten ihre Pferde. Wir schwingen uns in die Sättel und starten das Abendteuer mit Pferdinand, Gussdarf und Tautropfen.
Mongolen reiten mit schmucken Holzsätteln, die vorne und hinten hochgezogen sind. Originell im Design, insbesondere jene, die mit Silbersternen verziert sind, setzen sie beim Reiter eine geringe Beckentiefe voraus. Sie wirken eher unbequem, und Frau wundert sich, wie Mann damit zurechtkommt. Doch vielleicht erklärt dies, weshalb Männer gelegentlich unbeschreiblich schräg im Sattel hängen. Die Kundinnen bewegen sich mit „russischen Sätteln“ in der Komfortzone, an Metallschlaufen vorne und hinten, kann man sich bei Bedarf festhalten. Steigbügel haben die Form eines Stempels und sehen aus wie kleine Plattformen, die mir im leichten Trab und Galopp maximale Stabilität bieten.
Mongolische Pferde sprechen weder die Sprache der Englischen Dressur noch verstehen sie Deutsch, wie zu beobachten ist. „Tschü“ ist das Schlüsselwort der Mongolen, um das Pferd in Gang zu setzen. Viele – jedoch nicht alle Pferde reagieren darauf. Tautropfen fühlt sich bei „Tschü“ fast immer angesprochen, auch wenn es von weit hinten kommt, und legt einen Gang zu. Bei Tautropfen funktioniert aber auch ein leichter Schenkeldruck für den Wechsel vom Trab in den Galopp. Gelenkt wird nach fahrtechnischer Logik, indem man den Zügel an der Richtung zieht, in die man möchte. Tempo wird zurück genommen, indem man sich fest in den Sattel sitzt und die Zügel auf Brusthöhe nach hinten zieht.
In der Mongolei werde Pferde auf sehr natürliche Art geritten. Nomadenkinder werden schon sehr früh aufs Pferd gesetzt, wobei der Steigbügel weit unter ihren Fußsohlen baumelt, oder sie reiten ohne Sattel. Reitunterricht gibt es keinen, vielmehr schaut Klein von Groß ab, wie es geht – also „learning by doing“. Für das Reiten gibt es keine Regeln und man passt sich dem Wesen des Pferdes an.
Der Natur begegnen mongolische Pferde unerschrocken. Sie durchqueren Gewässer, auch wenn ihnen das Wasser bis über den Bauch reicht, klettern über Stock und Stein durch steiles Gelände und zeigen sich von Blitz und Donner unbeeindruckt. Kein Wunder, leben sie doch das ganze Jahr im Freien und überleben Winter bei Temperaturen von minus 40 Grad Celsius. Der Fliegenplage, die insbesondere vor dem Gewitter gnadenlos sein kann, entgegnen sie mit vertikalem Kopfschütteln, and das man sich gewöhnen muß.
Mongolische Pferde leben Zuneigung mit ihren Artgenossen und ein friedvolles Miteinander innerhalb ihrer Herde. Sie stecken ihre Köpfe zusammen, oder legen sich diese gegenseitig auf den Rücken oder Nacken, und spüren Nähe.
Während es in Österreich ganz normal ist, von der Reitstunde mit gewissem Landluft-Flair heimzukehren, und Mitbewohnern signalisiert, woher man kommt, stelle ich in der Mongolei täglich erstaunt fest, dass kaum Pferdegeruch an der Kleidung hängt. Selbst nach meiner Heimkehr beim Auspacken des Koffers bleibt der Geruch dezent – dabei hätte ich den wunderbaren Reitstunden gerne noch ein wenig nachgeschnuppert …
Ein wertvoller Mensch steht zu seinem Wort, ein wertvolles Pferd steht zu seinem Wesen.
(Mongolisches Sprichtwort)
Ein Video zur Mongolei gibt es hier: YouTube – Mongolei