Die Stadt lebt. Händler und Käufer verhandelnd lautstark Preise, Sklaven schleppen Säcke durch winzige Gassen und Kamele brüllen bei jedem Zentner Last, der ihnen aufgeladen wird. Lange fliegende Gewänder geben dem lebendigen Treiben einen zusätzlichen Impuls und beleben den Duft von Weihrauch, der in den dunklen Winkeln der Säulengänge hängt. Vor dem Brunnen stecken Frauen ihre Köpfe zusammen und kichern.
Ich spaziere entlang der ehemaligen Hauptstraße der Tausend-Säulen Stadt, die einst Gerasa hieß, und stelle mir vor, wie das Leben im oströmischen Reich gewesen sein mag. Moderne Errungenschaft, wie das Theater und öffentliche Bäder hielten Einzug, und die Stadt erlebte im zweiten Jahrhundert ihre Blüte und entwickelte sich zu einem bedeutenden Handelszentrum auf der Achse von Philadelphia, dem heutigen Amman, und Damaskus. Davon übrig sind heute nur noch Ruinen und Spuren aufeinanderfolgender Epochen. Der folgende Spaziergang auf der Cardo Maximus ist ein Versuch, die archäologischen Ausgrabungen mit Fantasie zu beleben.
Cardo Maximus
Ich befinde mich am südlichen Ende des Cardo Maximus. Seit dem Morgengrauen bereiten sich Händler auf ihre Kunden vor. Mit Eselskarren werden die Waren herbeigeschafft, und Körbe mit Datteln, Feigen und Nüssen ziehen an mir vorbei. Zwei Schafe stemmen sich gegen die Zugkraft ihres Herren, als wüssten sie bereits, was auf sie zukommt. Einige Ladenbesitzer habe ihre Türen bereits aufgestemmt, vom Bäcker dringt durch die kleinen Lichtöffnungen der Duft von frischem Brot.
Noch habe ich die Gelegenheit die Schönheit des Cardo zu bestaunen. Wie in der römischen Stadtplanung üblich, verläuft die Hauptstraße auf der Nord-Süd-Achse. Flankiert von Säulengängen, wirkt sie auf ihrer Länge von 800 Metern durchaus stilvoll. Beginnend vom Nordtor, mündet sie südlich in den sogenannten Ovalen Platz, der den Cardo Maximus mit dem Zeustempel verbindet.


Noch ist es relativ ruhig, doch das wird sich schlagartig ändern, wenn am frühen Vormittag die Bewohner ins Zentrum strömen, um ihre Geschäfte zu erledigen und ihre sozialen Kontakte zu pflegen. Auch für Besucher und Reisende führt kein Weg am Cardo Maximus vorbei.
Am Ovalen Forum haben sich die Händler bereits mit ihren Karren eingerichtet. Von einer guten Ernte zeugt das reichliche Angebot an Granatäpfel, Kraut, Spinat, Zwiebel und Knoblauch, aber auch Äpfel und Weintrauben werden verkauft. Ein paar Esel stehen abseits und wirken, als schlafen sie stehend. Drei Männer in weißen langen Togas queren den Platz und gehen auf den Zeus Tempel zu, während die ersten Kundinnen bereits ihre Körbe mit frischem Gemüse und Obst füllen. Ich folge drei Frauen, die in Richtung Macellum, dem Lebensmittelmarkt, gehen, der sich am Beginn des Cardo befindet.




Der Markt liegt etwas versteckt in einem überschaubaren Innenhof und ist gesäumt von einem Säulengang. An dessen Außenwände reihen sich kleine Lagerräume, in der Mitte des Platzes plätschert das Wasser in einem Brunnen. Auf Steintischen, getragen von Stützen in die Löwen und Ziegenköpfe gemeisselt sind, wird Schaffleisch angeboten. Heute gibt es auch ein bescheidenes Angebot an Fischen, vermutlich im Fluss gefangen, der das Stadtzentrum vom Wohnviertel trennt.
Von der Kreuzung zum Stadtbrunnen
Zurück auf der Hauptstraße spaziere ich diese weiter und stoße auf die erste Kreuzung und damit auf ein vierseitiges Tormonument, das Tetraphylon. Es ist ein beeindruckendes Bauwerk von dem auf jedem der vier Podeste pink-färbige Granitsäulen emporragen. Ein importierter Luxus aus dem 1,200 km entfernten Assuan in Ägypten.
Am Tetraphylon kreuzen sich der Cardo maximus und der Decumanus maximus, eine Straße, die das Wohnviertel im Osten über eine Brücke mit dem Zentrum verbindet. Hier zweigt sich der Weg zum Nord- oder Süd Theater, zum Zeus oder Artemis Tempel. Folge dessen ist die Kreuzung ein zentraler Knotenpunkt und daher immer belebt. Hier treffen sich die Leute und tauschen Neuigkeiten aus bevor sie ihren Pflichten nachgehen, Gott und Göttin verehren oder ihren Freuden frönen.

Ich spaziere weiter und an mehreren Läden vorbei. Verkauft werden hier Getreide, Linsen, Bohnen und eine bunte Auswahl an Gewürzen, wie Kardamom, Ingwer, Kümmel, Anis dessen Düfte die römische Architektur mit orientalischem Zauber benetzen. Auch Künstler haben hier ihren Platz gefunden und hoffen auf Abnehmer für ihre Öllampen aus Bronze und Schalen, Krüge und Töpfe aus Ton. Von den Tonfiguren, die ein Kamel beladen mit Tonkrügen und Schalen darstellen, bin ich fortan fasziniert. Und während ich meine Euphorie mit einigen Anwesenden teile, spazieren zwei Kamele an uns vorbei, beladen mit schwarzen Stoffbahnen und Holzelementen eines Beduinenzeltes.


Das Nymphäum
Nun stehe ich vor einem gewaltigen Bauwerk, dem Nymphäum. Der untere Teil des halbkreisförmigen, zweistöckigen Bauwerks ist mit Marmor verkleidet, der obere mit Fresken und Ornamenten reichlich verziert. Wasser wird über ein kompliziertes Leitungssystem zugeführt und durch sieben Löwenmäulern in ein großes Becken geleitet. Über ein Aquädukt werden die zahlreichen kleinen Brunnen, die sich entlang des Cardo Maximus befinden, sowie die öffentlichen Bäder versorgt. Bevor das Brunnenbecken überläuft, wir das Wasser in einen Abwasserkanal geleitet, der sich einen Meter unter der Cardo Maximus befindet. Ja, die Stadt hat ein Abwassersystem und das erklärt auch, weshalb es hier keine Geruchbelästigung gibt.


Während ich das Bauwerk bestaune, kommen zwei Frauen auf das Nymphäum zu, schöpfen mit einem Krug Wasser aus dem Becken, und reinigen sich Hände, Gesicht und Füße. Anschließend schreiten sie durch das angrenzende Tor und steigen die steile Treppe hoch, die zum Artemis Tempel führt.
Artemis Tempel
Artemis ist die Schutzgöttin von Gerasa und der ihr gewidmete Tempel ist das größte und eindrucksvollste Bauwerk der Stadt. Artemis ist die Göttin der Jagd, wird aber auch für die Fruchtbarkeit verehrt.

Ich folge den Gläubigen durch das Tor und bereits mit dem Betreten der breiten und steilen Treppe, und dem Anblick dieses gewaltigen und majestätisch anmutenden Heiligtums, ergreift mich eine Ehrfurcht und das Gefühl, mich übermenschlichen Kräften zu nähern. Über die Treppe erreiche ich ein großes und von Säulen umgebenes Plateau, auf dem sich in der Mitte auf einem Podest das Heiligtum erhebt. Auf dem Platz verehren die Menschen ihre Göttin und haben dafür Opfergaben, wie etwa Datteln oder eine Schale Brei, mitgebracht. Der Duft von Weihrauch ist allgegenwärtig. Auch kleine Öllampen flackern vor sich hin. Es ist ein Kraftort, der seine Besucher in den Bann zieht. Ich genieße die Atmosphäre und diese eindrucksvolle Architektur.


Theater
Den Tempel verlasse ich in Richtung Norden und komme am Theater vorbei. Die Römer errichteten zwei Theater, eines im Süden neben dem Zeustempel, das rund 5,000 Zuschauer fasst, und ein etwas kleineres, hier im Norden, neben dem Artemis Tempel. Dieses Theater diente ursprünglich als Versammlungssaal des Stadtrates (Buleuterion), worauf Gravuren in den Sitzbänken der ehemaligen Mitglieder aus den unterschiedlichen Stammesgesellschaften und Clans hinweisen. Erst in weiterer Folge wurde es zum Odeon für Musik und Schauspiel. Aufgeführt werden hier Poesie, Musik und Komödien. Da gerade keine Aufführung stattfindet, kann ich auch einen Blick hinter die Kulissen werfen.


Zum Abschluß ein Besuch im Römischen Bad
Zurück auf den Cardo komme ich zur zweiten Kreuzung, wo sich das öffentliche Bad befindet. Am frühen Nachmittag ist es gut besucht.
Die Badeanlage besteht aus einem großzügigen Komplex aus drei Räumen, mit jeweils Bädern zum heiß, warm und kalt baden. Umgeben ist der Bau von einem Säulengang, der als Palaestra dient. Hier sitzen die Besucher vor und nach dem Bad und unterhalten sich. Einige Frauen dehnen ihre Körper nach allen Richtungen, andere werfen sich einen Ball zu. Die öffentlichen Bäder sind für die Bevölkerung zum sozialen Mittelpunkt ihres Lebens geworden und viele kommen täglich. Es ist ein Ort der Kommunikation und des Zeitvertreibs und wo man sich von der Hektik der Stadt zurückziehen kann.
Ein weiteres und noch viel größeres Bad befindet sich auf der anderen Flußseite im Wohnviertel. Das sogenannte Ostbad erstreckt sich über eine Fläche von zwei Fußballfeldern.
Mit dem Badebesuch beende ich meinen Spaziergang entlang des Cardo Maximus und verlasse das Stadtzentrum durch das Nordtor.
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Heute heißt die Stadt Jerash und zählt zu den archäologischen Sehenswürdigkeiten in Jordanien.
Die Stadt war von 64 v.Chr. bis 324 n.Chr. unter römischer Herrschaft und erlebte ihren wirtschaftlichen und städtebaulichen Höhepunkt im 2. Jahrhundert. Während der byzantinischen Epoche (324 – 636 n.Chr.) und der Christianisierung wurden im Stadtkern zahlreiche Kirchen, darunter eine Kathedrale neben dem Nymphäum errichtet, wofür Baumaterial von früheren Bauwerken, etwa den beiden Tempeln Zeus und Artemis, sowie dem Tetraphylon verwendeten wurden. Mitte des 5. Jahrhunderts war Gerasa Bischofssitz.
Im 7. Jahrhundert wurde die Stadt von Muslimen übernommen. Die meisten Kirchen wurden weiterhin genutzt, und eine Moschee neben dem Tetraphylon für 1,500 Gläubige, die zum Islam konvertierten, errichtet.
Im Jahr 749 wurde die Stadt durch ein schweres Erdbeben weitgehend zerstört.
Abgesehen von einigen Kreuzrittern die kurzfristig im 12. Jahrhundert in die baulichen Reste der beiden Tempeln einzogen und dort eine Töpferwerkstatt einrichteten, blieb die Stadt unbewohnt.